Das Gegnerinterview mit einsachtvieracht
Zum ersten Mal seit dem 30. August 2003 treffen der VfL Bochum und der SSV Jahn (2:1 für den Jahn) wieder in einem Pokalspiel aufeinander. Die Vorzeichen könnten einerseits kaum unterschiedlicher sein: Während sich der VfL in der Bundesliga zuletzt etablieren konnte, stieg der Jahn in das Unterhaus, die 2. Bundesliga, auf. Anderseits gewannen beide Teams die Relegation und erwarten eine Teilnahme im Abstiegskampf. Im Gespräch über die letzte Saison, Erwartungen und den Transfermarkt mit einsachtvieracht.de. (Foto: Christof Koepsel/Getty Images)
Servus, der Jahn gegen Bochum – oder auch Relegationsgewinner gegen Relegationsgewinner. Mal ernsthaft, habt ihr nach dem 0:3 im Hinspiel noch an das Wunder geglaubt?
Ehrlich gesagt nicht wirklich. Die Mannschaft war so dermaßen am Boden, dass niemand wirklich auch nur den Hauch einer Idee hatte, wo der VfL denn nun mindestens einen Sieg mit drei Toren Vorsprung herholen soll, um mindestens in die Verlängerung zu kommen. Entsprechend war auch die Stimmung im Umfeld. Die wenigsten haben die Auswärtsfahrt nach Düsseldorf wirklich zelebriert, wie man es sonst tut. Viele waren mit dem Auto unterwegs, haben auf’s obligatorische Bierchen verzichtet, kamen erst kurz vor knapp ins Stadion. Spiele wie das in Düsseldorf, KO-Charakter mit dieser Wendung, das erlebst du als Fan vielleicht 1-2x in deinem ganzen Leben.
Wie ging es euch die Wochen nach diesem Sieg im Elfmeterschießen – wurde ein Anstieg an Bluthochdruck-Erkrankungen in Bochum festgestellt?
Sagen wir mal so – um diesen Verein zu lieben, muss man eh sehr leidensfähig sein. Das Spiel hat einer Saison mit ganz viel Auf und Ab noch die Krone aufgesetzt. Du gewinnst 3-2 gegen die Bayern, nur um dann wochenlang nichts zu holen. Du holst im Saisonendspurt gegen Hoffenheim und Berlin sechs Punkte, nur um dann am letzten Spieltag doch noch als 16. ins Ziel zu gehen. Da passte dann diese Wendung in der Relegation perfekt rein.
Euer Topscorer Kevin Stöger zeigte ja in allen Belangen eine herausragende Saison – 34 Spiele und 8 Tore als Mittelfeldspieler – wie schwer wiegt der Verlust gerade in Hinblick auf seinen Ersatz?
Kevin Stöger als Einzelspieler ist nicht zu ersetzen für den VfL. Das muss man so klar sagen. Alleine seine Leistung im Relegations-Rückspiel war vermutlich eine der dominantesten Leistungen eines Einzelspielers im Trikot des VfL. Jeder Angriff ging über ihn, 168 Ballkontakte, ein Tor, zwei Assists. Aber auch davor war er für den VfL absolut elementar. Den Verlust wird man nicht durch einen Einzelspieler auffangen können. Mit De Wit hat man als Nachfolger aber eben auch einen Typ Spieler verpflichtet, der seine Stärken in anderen Bereichen als Stöger hat. Die kreative Last wird man auf mehrere Schultern verteilen.
Und dazu kommt auch noch der Abgang von Keven Schlotterbeck, der ja auch als Stammspieler fungierte, wie sehr macht euch diese Lücke sorgen?
Diese Lücke macht mir persönlich eher weniger Sorgen. Mit Sissoko hat man einen für VfL-Verhältnisse überragenden 6er geholt. Alleine durch seine Präsenz dürfte die Abwehr in Zukunft deutlich stabiler stehen. Versteh mich nicht falsch. Keven ist menschlich und sportlich ein herber Verlust für den VfL. Ich glaube allerdings, dass es gemessen am Gesamtpaket für den VfL deutlich günstigere Gesamtpakete bei Innenverteidigern auf dem Markt gibt. Stand heute sind wir “gut” aufgestellt in der IV, ich gehe allerdings davon aus, dass sollte Bernardo den VfL verlassen, wir eh noch nachlegen werden hinten im Zentrum.
Allgemein kamen am Ende der Vorbereitung mit Boadu und Balde zwei Hochkaräter via Leihe. Was erhofft ihr euch von den beiden?
Mit Boadu hat man nun seinen “Mobile Striker”, den man eigentlich schon seit letztem Winter sucht. Er soll um Hofmann rum spielen, auf die Flügel ausweichen und vor allem auch Tempo ins Spiel bringen. Balde ist als Ergänzung auf den bisher doch eher schwach aufgestellten Flügen geholt worden. Vermutlich wird man mit einem 442 mit enger Raute in die Saison gehen. Durch einen gezielten Transfer für die Flügel hält man sich allerdings die Option 433 offen, die man auch das ein oder andere Mal in der Vorbereitung gesehen hat.
Der Etat beim VfL ist so groß wie noch nie – wie groß ist bei euch sie Sorge, dass sich der Verein übernimmt.
Wenn man sich beim VfL um eine Sache keine Sorgen machen muss, dann ist es die finanzielle Gesundheit. Mit Kaenzig hat man einen absolut seriösen Geschäftsführer. Es gibt teilweise eher sogar Kritik von Teilen der Fans, dass der VfL zu konservativ wirtschaftet. Diese Kritik teile ich nicht. Gemessen an seinen Fähigkeiten, besonders wenn man Limitierungen wie beispielsweise die strukturschwache Region und zu wenige gewinnbringende VIP-Plätze im Ruhrstadion sieht, wird hier sehr gute Arbeit geleistet. Nennenswertes Wachstum kann in den nächsten Jahren eigentlich nur durch gute Platzierungen oder eben hohe Transfererlöse kommen. An einer engeren Verzahnung zwischen Jugend- und Herrenbereich wird aber gearbeitet.
Am Ende kommt es natürlich auch immer auf das mannschaftstaktische Gefüge an. Welchen Eindruck habt ihr bisher von Peter Zeidler?
Kommunikativer, direkter Typ, der sehr gut ins Ruhrgebiet passt. Sucht auch die Nähe zu den Fans, was bei uns in Bochum sehr gut aufgenommen wird.
Er musste ja direkt der Posse um Manuel Riemann begegnen – wie groß ist dieser Konflikt im Verein?
Er war sehr groß rund um die Relegation, als das Thema noch ganz frisch war. Mittlerweile interessiert dieses Thema nur noch die allerwenigsten. Es ist einfach schade, dass die Äre Manuel Riemann so enden muss. Er war neun Jahre unsere Nummer 1, jüngere Fans kennen praktisch nur ihn im Kasten des VfL. Man kann nur hoffen, dass wenn der Konflikt gelöst ist, man zueinander kommt und er den Abschied bekommt, den er eigentlich verdient hat. Einfach war er als Person nie, aber eben sportlich eine prägende Person für fast ein Jahrzehnt.
Mit “Toto” Losilla gibt es noch eine weitere Legende (?) im Verein, der dazu seinen Vetrag verlängerte, wie sehr hilft er der Mannschaft auf und neben dem Platz?
Neben dem Platz ist die Rolle von Toto unumstritten. Absoluter Führungsspieler, auch bei der Integration von Neuzugängen. Sportlich muss man “leider” sagen, merkt man immer öfter sein Alter. In der Rückrunde gab es öfters Situationen, besonders, wenn raumorientiert verteidigt wurde, in denen Toto das Tempo einfach gefehlt hat und dadurch Situationen entstanden sind, in denen die IV rausrücken mussten und man hinten komplett blank stand. Dann aber wiederum gibt es Spiele, in denen man absolut nichts davon merkt, wie alt er eigentlich ist. Ich gehe allerdings ganz stark davon aus, dass dieses Jahr wirklich sein letztes wird.
Inwieweit lebt allgemein das VfL-Gen in dieser Mannschaft – habt ihr das Gefühl, dass charakterliche Werte in der Kaderplanung einen hohen Stellenwert haben?
Nach einigen Fehlgriffen in der Vergangenheit wie Lys Mousset, bei denen man schmerzlich merken musste, dass Charakter halt auch über Erfolg und Misserfolg eines Spieler entscheiden kann, ist dieser Faktor nochmal wichtiger geworden. Spannend wird in dieser Saison, wie man den Wegfall einiger Führungsspieler wie Stöger, Riemann und Schlotterbeck auffangen kann. Mit Toto und Gambo hat man immer noch zwei ganz wichtige Leittiere, die aber aufgrund ihres Alters ihre Rolle wohl eher neben den Platz haben als immer im Spiel selber.
Die Testspiele liefen gemischt, das 6:0 gegen den französischen Erstligisten Le Havre sticht dennoch heraus – was kann man nach der Vorbereitung erwarten?
Was sich durch die ganze Vorbereitung durchgezogen hat, dass alle wussten, dass der Kader noch weit weg von fertig ist. Wir hatten mit Sissoko und De Wit zwei hochkarätige Verstärkungen recht früh bei der Mannschaft, danach kam dann aber lange nichts mehr. Generell kam der Transfermarkt anscheinend erst recht spät in Fahrt. Aber auch heute fehlen noch 2-3 Spieler mit Startelf-Qualität. Ich würde daher die Vorbereitung in Summe erstmal nicht zu hoch bewerten, wobei man gegen Le Havre schon gesehen hat, dass die Mannschaft nun langsam zueinander findet.
Der Jahn und der VfL sind sich ja auch schon öfter über den Weg gelaufen – was verbindet ihr mit unserem SSV?
Persönliche Geschichte – ich habe in der Saison 21/22 regelmäßig Spiele von Regensburg geschaut, weil ich absoluter Fan von Sapreet Singh war. Ich schaue regelmäßig die Spiele von Wellington Phoenix und habe den Jungen 2017 dort das erste Mal spielen sehen. Damals war schon abzusehen, dass er für die A-League viel zu gut ist und ihn damals regelrecht versucht nach Bochum zu “schreiben”. Hat mich dann schon sehr gefreut, dass er über die Bayern nach Deutschland gekommen ist.
Ansonsten erinnere ich mich sehr lebhaft an den 5-1 Sieg am 32. Spieltag im Mai 2021 kurz vor unserem Aufstieg. Mitten im Höhepunkt von Corona, Ausgangssperren und da ist dann dieser VfL, der eine ganze Stadt in Extase versetzt und in leeren Stadien seinen Stiefel so gut runterspielt. Ich erinnere mich so gut an den kleinen Autokorso rund ums Stadion.
Der VfL und der DFB-Pokal, fällt euch ein Moment ein, der diese Beziehung recht gut beschreibt?
Die Erwartungshaltung an den Pokal sind in Bochum immer recht gering. Man kennt ja seinen Verein. Eine sehr lebhafte Erinnerung aus der jüngeren Vergangenheit ist mit Sicherheit das Elfmeterschießen gegen Augsburg im Oktober 2021, als Riemann den entscheidenden Elfer rein machte. Eben nicht alltäglich, dass ein Keeper antritt.
Viele Experten sehen den VfL auch in dieser Saison im Abstiegskampf. Wie geht ihr mit diesen Prognosen um, und was macht euch dennoch zuversichtlich?
Mit unseren finanziellen Mitteln sind wir rational betrachtet auch ein Abstiegskandidat. Gemessen am finanziellen Input overperformen wir seit vier Jahren. Im Aufstiegsjahr lagen wir in der zweiten Bundesliga mit unserem Etat auf Platz 9. Über die Jahre danach in der Bundesliga brauchen wir nicht reden, da sind wir immer letzter oder vorletzter im Etat-Ranking. In diesem Jahr haben wir die ja schon fast luxuriöse Situation, dass mit Kiel und Pauli zwei Vereine aufgestiegen sind, die bei Etat kleinere Brötchen backen müssen als wir. Es geht in diesem Jahr für uns wieder rein um die Existenz in der Bundesliga. Das fällt einigen schwer zu verstehen, aber wird sich eben erst ändern durch stetiges Steigen im TV-Ranking und Transfererlöse.
Was mich zuversichtlich macht, ist eben, dass zwei in meinen Augen nicht ganz so starke Aufsteiger hochkommen. Gerade Pauli hat eben auch den Trainer verloren, was nie einfach ist. Dazu sehe ich Heidenheim in diesem Jahr nicht so stark – die haben ihre komplette Offensive verloren und eine Doppelbelastung, wenn sie die Quali packen. Kriegen wir unsere PS halbwegs auf den Rasen und bleiben von großen Verletzungen verschont, könnte es eine ruhigere Saison werden.
Bochum beschreibt sich als “Großstadt mit Lebensgefühl”, welches Lebensgefühl macht der VfL für euch aus?
Bochum ist für mich die Stadt, bei der niemand versteht, dass man an ihr hängt, wenn man selbst dort noch nie gelebt hat. Für mich ist Bochum Heimat. Ich wohne selber seit fast zwei Jahren in Hamburg und freue mich trotzdem jedes Mal, wenn ich zurückfahre, um Familie und Freunde zu besuchen. Das Ruhrstadion kann man beispielhaft für dieses Heimatgefühl nehmen. Jedes Heimspiel wird in der ganzen Stadt zelebriert. Du triffst ständig Leute, die du kennst. Dieses Gefühl, wenn du die Treppen zur Ostkurve hochgehst in einen meistens schon völlig überfüllten Block. Ker, schon Gänsepelle, wenn ich nur daran denke.
Last but not least, euer Tipp? Wer darf von Berlin träumen?
Nach Le Havre (Anm. d. Red.: 6:0-Sieg) sage ich, dass wir das Dingen schaukeln. Sorry liebe Regensburger.
Danke!
Die Kurz-Analyse
Peter Zeidler hat beim VfL Bochum eine spielerische Ausrichtung etabliert, die stark auf Positionsspiel und Ballkontrolle basiert. Im Mittelpunkt steht dabei das Ziel, das Spiel über präzises Passspiel und kontrollierte Bewegungen zu dominieren. Dieses Spielmodell unterscheidet sich deutlich von den Ansätzen der vorherigen Trainer und betont Flexibilität sowie strategische Anpassungen, um den Gegner gezielt unter Druck zu setzen. Für eine ausführliche Analyse zum VfL habe ich einen Beitrag für spielverlagerung.de verfasst: https://spielverlagerung.de/2024/08/15/bochum-unter-zeidler-erste-eindruecke-mx/
1. Grundformation und Struktur
Die Grundformation, die Zeidler bevorzugt, ist ein 4-3-3-System. Allerdings wird dieses System flexibel gehandhabt, sodass es sich je nach Spielsituation und Gegner in eine 3-3-4-Formation oder eine 3-1-3-3-Raute verwandeln kann. In der Defensive wird das System oft zu einem 4-4-2 oder einem 4-3-3, um besser auf gegnerische Angriffe zu reagieren. Besonders auffällig ist die Rolle der Außenverteidiger, die situativ in die Dreierkette einrücken oder sich weiter nach vorne orientieren, um Überzahlsituationen im Mittelfeld zu schaffen.
2. Positionsspiel und Ballzirkulation
Das Positionsspiel von Zeidler zeichnet sich durch eine gezielte Besetzung der Halbräume und die Nutzung diagonaler Passwege aus. Die Halbräume werden oft doppelt besetzt, was es dem Team ermöglicht, schnell von einer Seite des Feldes zur anderen zu verlagern und so Lücken in der gegnerischen Abwehr zu öffnen. Die Außenverteidiger, insbesondere Maximilian Wittek, spielen dabei eine entscheidende Rolle, indem sie entweder die Breite des Spiels gewährleisten oder in die zentrale Aufbauformation einrücken, um den Ballfluss zu stabilisieren.
3. Flexibles Angriffspressing
Ein weiteres Kernelement von Zeidlers Spielstil ist das intensive, flexible Angriffspressing. Die Spieler versuchen, den Gegner durch eine enge Staffelung und gezielte Pressing-Auslöser (Trigger) zu Fehlern zu zwingen. Dabei wird besonders darauf geachtet, den Gegner auf die Außenbahnen zu lenken, wo Bochum durch kollektives Verschieben und Druck auf den ballführenden Spieler schnell den Ball erobern kann. Das Pressing wird durch die dynamischen Bewegungen der Mittelfeldspieler und die enge Raumaufteilung noch verstärkt.
4. Offensivspiel und Überladungen
Im Angriffsspiel setzt Zeidler auf kleinräumige Überladungen, insbesondere in den Halbräumen. Diese Überladungen dienen dazu, Raum für diagonale Läufe und schnelle Kombinationen zu schaffen, die das Team tief ins letzte Drittel des Gegners bringen. Dabei wird viel Wert auf die Positionsrotation der Spieler gelegt, um Unberechenbarkeit zu erzeugen und den Gegner in der Defensive auseinanderzuziehen.
Ein zentraler Aspekt ist auch die schnelle Verlagerung des Spiels von der überladenen Seite auf die ballferne Seite. Dies geschieht oft über diagonale Chipbälle oder schnelle Seitenwechsel, um die gegnerische Abwehrlinie zu destabilisieren und freie Räume zu nutzen.
5. Defensive Absicherung und Raumkontrolle
Defensiv achtet Zeidler darauf, dass das Team kompakt bleibt und die Räume zwischen den Linien minimiert werden. Das zentrale Mittelfeld agiert dabei oft als flache Dreierkette, die den Sechserraum absichert und gegnerische Angriffe frühzeitig stört. Die Außenverteidiger übernehmen eine entscheidende Rolle in der Raumkontrolle, indem sie situativ einrücken oder aufrücken, um den Gegner zu lenken und die Defensivlinie zu unterstützen.
6. Anpassungsfähigkeit und taktische Flexibilität
Zeidlers System ist darauf ausgelegt, flexibel auf unterschiedliche Spielsituationen und Gegner zu reagieren. Je nach Spielverlauf kann die Formation schnell umgestellt werden, um entweder mehr Kontrolle im Mittelfeld zu erlangen oder die Offensive zu verstärken. Diese taktische Flexibilität ermöglicht es Bochum, sowohl gegen tiefstehende als auch gegen druckvolle Gegner effektiv zu agieren.
Zusammengefasst basiert Zeidlers Spielsystem auf einer Kombination aus Positionsspiel, intensiver Pressingarbeit und taktischer Flexibilität. Ziel ist es, den Gegner durch kontrolliertes Ballbesitzspiel und gezielte Bewegungen zu dominieren, während gleichzeitig defensive Stabilität gewährleistet wird.