Nach dem Abstieg stellte Achim Beierlorzer eine junge, dynamische Mannschaft zusammen: Dafür kann schonmal Euphorie entfachen oder ist es dafür zu früh? (Foto: Karina Hessland/Getty Images via Onefootball)
Trügerisch – sagt Julian Lindemann
Wie schlimm müssen sich die letzten Jahre zweite Liga angefühlt haben, für alle die, die jetzt auf einer Welle der Euphorie in Richtung neuer Saison gleiten. Wie schlimm müssen sich Duelle gegen den HSV, Werder Bremen und den 1. FC Köln angefühlt haben, dass sich Verl, Lübeck und Freiburg II wie das gelobte Land anhören? Ist der Jahn vielleicht doch nicht für die Rolle des Underdogs gemacht? Ist das Jahn Umfeld doch zu sehr FC Bayern sozialisiert? Brauchen wir das „Mia san mir und eh besser als alle andern“ um Leidenschaft für eine Mannschaft entstehen lassen zu können?
Wie schlimm müssen sich die letzten Jahre zweite Liga angefühlt haben, für alle die, die jetzt auf einer Welle der Euphorie in Richtung neuer Saison gleiten.
Natürlich darf man sich auf die neue Saison freuen, auf neue Gegner, neue Spieler, neue Siege. Euphorie in allen Ehren, darf sie aber nicht über die Tatsache hinweg täuschen, dass wir die schwere Zeit noch nicht überstanden haben. Betrachtet man die Fakten, müsste nicht nur der unbelehrbare Pessimist die eine oder andere Sorgenfalte auf der Stirn bekommen. Zum einen ist die dritte Liga nicht mit Amateurteams besetzt, die per Los aufgestiegen sind. 1860, Bielefeld, Saarbrücken und auch Sandhausen sind nur einige der Teams, die wir nicht im Vorbeigehen schlagen werden. Zum anderen kannte sich der Haufen Spieler, der jetzt als Jahnelf genau diese Mannschaften schlagen soll, vor 3 Wochen untereinander schlimmstenfalls nicht mal vom Namen her. Zusammengestellt wurde dieser Haufen von einem gescheiterten Trainer, der per Vitamin B zum Posten als Sportdirektor gekommen ist wie Maria zum Kind.
Trainerteam, Sportdirektor und Kader haben das Potenzial zu etwas ganz Großen zusammenzuwachsen. Aber so, wie auch jeder Nobelpreisträger mit Liebe und Zuwendung der Eltern auch erst Laufen und Zählen lernen musste, bevor deren Geist wissenschaftliche Glanztaten entspringen konnten, so wird auch unser „neuer Jahn“ zunächst Liebe, Zuwendung und vor allem Nachsicht von uns Fans benötigen, bevor daraus der Erfolg erwachsen kann, den wir uns alle sehnlichst wünschen.
Darüber darf die entstandene Euphorie nicht hinwegtäuschen und keiner darf sich der Illusion hingeben, dass jetzt alles einfacher wird, nur weil wir eine Liga tiefer spielen. Euphorie kann viele positive Dinge bewirken, sie ist aber auch zerbrechlich und kann bei Rückschlägen schnell ins Gegenteil umschlagen und so ist das Tal der Tränen näher als sich viele erträumen.
Gerechtfertigt – sagt Joe
Es mag vielleicht etwas ungewohnt klingen, aber ich bin im Laufe der letzten Rückrunde zu einer Erkenntnis gekommen: Wir gehören einfach durch viele Faktoren (noch) in die 3. Liga. Auch wenn wohl einige Jahnfans die Jahre in den Ligen 3 und 4 gar nicht kennen und es weniger einzuschätzen vermögen, was die positiven und negativen Seiten der Unterklassigkeit sind, werden wohl einige negative Punkte dieser zuerst genannt. Doch diese attraktive Liga, mit ihren ehemaligen Bundesligisten aus Essen, Dresden, Bielefeld, Duisburg, Ulm, Unterhaching, Münster, Ingolstadt, Giesing, Mannheim und Saarbrücken, bietet zwar einen finanziellen Friedhof für schlecht geführte Vereine, doch für andere (gut geführten) eine Chance auf Festigung.
Warum also genau soll man nach dieser ganzen Ernüchterung euphorisch oder mit großer Vorfreude in das neue Fußballjahr gehen? Nach einem Vulkanausbruch, durch den vieles zerstört wird, erblüht die Natur meist besser als zuvor. Schön wäre es, wenn man diese Metapher 1:1 auf unseren Jahn übertragen könnte, doch in gewisser Weise funktioniert dieser Vergleich. Im Vergleich zum Jahn vor 2 Monaten sind kaum noch alte Hasen in sämtlichen Positionen zu finden. Stattdessen schossen vor allem viele junge Sprösslinge empor, an denen kompromisslos die Zukunft des Vereins hängt, die aber schon vielversprechende Leistungen in den Testspielen zeigen konnten.
Die große Menge an Neuankömmlingen haben wir wohl in erster Linie einem Rückkehrer zu verdanken: Achim Beierlorzer. Allein schon mit dem Namen verbinden viele Nostalgiker euphorische Zweitliganächte und die letzten Wochen zeigen: Er kann auch vielversprechende und ambitionierte Spieler einkaufen, die offenbar mehr Lust auf eine tolle Saison haben, wie manch anderer des letzten Kaders.
Das Freuen oder das physische und psychische Gesamtpaket von Euphorie braucht es, um eine gute Harmonie zu bilden, sowohl bei uns Fans als auch bei der Jahnelf gleichzeitig. Sollte diese selten bei Fans und Spielern gleichzeitig vorhanden sein, kann man nur schwer mannschaftlich auf einer „positiven Welle reiten“. Ein aktuelles Beispiel dafür kann sich jeder Jahnfan denken: die Saison 22/23. Doch alle psychischen Barrieren scheinen nach dem großen „Jahn-Vulkanausbruch“ beseitigt. Der frische Wind in der Geschäftsstelle sorgt, trotz Abstieg, für einen selten da gewesenen Andrang zu den Testspielen. Die wieder kleiner gewordene mediale Aufmerksamkeit außerhalb Ostbayerns dürfte den Entscheidungsträgern mehr Luft zum Atmen als sowieso schon verschaffen. Neue und unbekannte Gegner in der Liga und gesunkene Ticket- und Streamingpreise für Spiele der Jahnelf sind einige in weitere Faktoren, die bei vielen Jahnfans für Entlastung in Seele und Geldbeutel sorgen dürften.
(…) alle psychischen Barrieren scheinen nach dem großen „Jahn-Vulkanausbruch“ beseitigt.
Warum also mit negativer Vorahnung in die Saison gehen? Vieles ist neu, unbekannt und wird nicht sofort am Platz klappen, doch dieser erneuerte Verein hat, nach 18 Monaten Schmerz, eine große Chance auf einen positiven Neustart verdient.